Wie man Dinge weniger persönlich nimmt

Einige Menschen neigen dazu, sich in Job und Privatleben leicht verunsichern zu lassen. Warum ist das so? Und: Wie lässt sich das ändern?

Erschienen am 26.08.2022 in der Süddeutschen Zeitung, Rubrik Wissen am Wochenende

Wahrscheinlich kennen die meisten Menschen soziale Situationen, die sie verunsichern: Eine unbegründete Absage per Textnachricht eines Freunds für ein lang geplantes Treffen. Oder eine Kollegin, die beim Betreten des Büros nicht grüßt. Und schon kommen die Zweifel: Hat mein Freund das Treffen abgesagt, weil er sich während unserer letzten Begegnung langweilte? Grüßt mich die Kollegin nicht, weil ich einen Fehler gemacht oder sie irgendwie verärgert habe? Dabei beziehen wir uneindeutige soziale Situationen auf die eigene Person und suchen dort die Fehler oder Schuld für ein (vermeintliches) Problem. Ist das eine natürliche menschliche Tendenz?

 „Ich glaube, mehr oder weniger hat das jeder, über bestimmte Situationen nachzudenken oder doppelt zu überprüfen, wie der andere sich verhält“, sagt die Psychologin, Verhaltenstherapeutin und Dozentin Dr. Martina Fischer- Klepsch. „Wir hinterfragen uns alle selbst und versuchen, uns in sozialen Situationen möglichst angemessen zu verhalten.“ Dieses Verhalten half unseren Vorfahren zu überleben: „In der Wüste aus der Sippe ausgeschlossen zu werden, das hätte unseren sicheren Tod bedeutet. Deshalb war es wichtig, dass wir in der Gruppe unsere Rolle eingenommen und uns irgendwie angepasst haben. Schuld und Scham hatten eine Überlebensfunktion, weil sie sicherten, in der Gruppe angenommen zu werden. Besäßen wir keine Fähigkeit zu schlechtem Gewissen und Schuldgefühlen, würden wir uns vielleicht manchmal verhalten wie die Axt im Walde“, erklärt die Psychologin.

Sich selbst zu hinterfragen und an die Gruppe anzupassen, sicherte unseren Vorfahren das Überleben.

In unserer modernen Gesellschaft in Deutschland hängt unser Überleben zwar nicht mehr so stark von der Zugehörigkeit zu einer Gruppe ab, jedoch sei das Zusammenleben auch heute noch schwierig oder kaum möglich, wenn Menschen ihr Verhalten in sozialen Situationen nicht hinterfragen und anpassen würden, so Fischer- Klepsch. Die heute zu beobachtende Verunsicherung in zwischenmenschlichen Begegnungen sei auch auf die gestiegene Komplexität unserer Gesellschaft, die Vielfalt an sozialen Kontakten und veränderte Kommunikationswege zurückzuführen. Besonders die Kommunikation über Kurznachrichten führten bei vielen Menschen zu Verunsicherung und Missverständnissen, da wichtige Informationen wie der Klang der Stimme und die Körpersprache fehlen. 

Die Angst von den anderen nicht akzeptiert oder ausgeschlossen zu werden, ist also ein Erbe unserer Vorfahren. In einem gewissen Maße sind diese selbstkritischen Gedanken deshalb normal und adaptiv. Die damit verbundenen Gefühle wie Angst und Schuld weisen darauf hin, dass die Grundbedürfnisse nach Verbundenheit und Zugehörigkeit gefährdet sind. Sie sind sehr hilfreich, wenn sie zu den richtigen Verhaltenskonsequenzen führen, sagt Fischer- Klepsch. Wie Menschen auf diese reagieren, hängt jedoch entscheidend von ihrer Selbstsicherheit in sozialen Situationen ab: „Selbstsichere Menschen haben den Vorteil, dass sie sich den Raum nehmen, ihre Zweifel zu überprüfen. Sie fragen dann vielleicht nochmal nach, ob sie irgendwas missverstanden haben, um die Situation zu bereinigen. Während sozial unsichere Menschen stärker um ihre Gedanken kreisen und mit sich beschäftigt sind. Sie fragen sich ständig: Wie sieht der andere mich? Aber natürlich durch die eigene Brille“, erklärt die Psychologin. Durch die selbstfokussierte Aufmerksamkeit entgingen sozial unsicheren Menschen zwischenmenschliche Signale, die auch ohne, dass die Situation angesprochen wird, mehr Klarheit verschaffen würden. Dadurch neigen sie eher zu Verzerrungen in Wahrnehmung und Denken, was wiederum den Fokus auf das Selbst verstärkt. Es kommt zu Teufelskreisen, bei denen sich selbstfokussierte Aufmerksamkeit und Verzerrungen im Denken gegenseitig beeinflussen.

Sozial unsichere Menschen sind stärker mit sich beschäftigt. Dadurch entgehen ihnen zwischenmenschliche Signale.

Psychologen und Psychologinnen bezeichnen die Verzerrungen in Denken und Wahrnehmen als „kognitive Verzerrungen“. Dieser Begriff geht auf den berühmten Psychologen Aaron T. Beck zurück, der vor rund 50 Jahren das kognitive Modell der Depression entwickelte, welches Ausgangspunkt und Grundlage der kognitiven Verhaltenstherapie bildet. Dieses besagt, dass die Art wie Menschen Informationen organisieren, verarbeiten und interpretieren entscheidend beeinflusst, wie sie sich fühlen, verhalten und körperliche reagieren. Kognitive Verzerrungen sind Störungen in der Verarbeitung von Informationen. Sie führen dazu, dass ein Mensch eine Grundannahme, also tiefgreifende, überdauernde und situationsübergreifende Überzeugungen über sich und die Welt, beibehält, auch wenn es dafür keine oder sogar gegenteilige Beweise gibt. Beck identifizierte ursprünglich 7 Denkfehlern, später fügten anderen Autoren weitere hinzu.

Ein Beispiel für einen Denkfehler, der mit sozialer Verunsicherung in Zusammenhang stehen kann, ist das sogenannte „Gedankenlesen“. Dabei glaubt ein Mensch zu wissen, was eine oder mehrere Personen über ihn denken, ohne konkrete Anhaltspunkte dafür zu haben. Interpretiert jemand allein den wiederholten Blick seines Gesprächspartners auf sein Handy als Beweis dafür, für langweilig gehalten zu werden, unterliegt er wahrscheinlich diesem Denkfehler. Er projiziert dabei seine selbstkritischen Annahmen auf das Gegenüber, erklärt Fischer-Klepsch. Ein weiteres Beispiel ist das „Personalisieren“. Dabei bezieht ein Mensch negative Ereignisse einseitig auf sich, ohne andere mögliche Gründe in Betracht zu ziehen. Dieser Denkfehler könnte am Werk sein, wenn jemand allein aufgrund der fehlenden Begrüßung der Kollegin darauf schließt, einen Fehler gemacht und sie dadurch verärgert zu haben. Dabei übernimmt die Person Verantwortung für Ereignisse, für sie womöglich nichts kann (vielleicht hatte die Kollegin einfach einen schlechten Tag).

Bei dem Denkfehler “Gedankenlesen” glaubt ein Mensch zu wissen, was andere über ihn denken, ohne dafür Anhaltspunkte zu haben.

Das problematische an den Denkfehlern „Personalisieren“ und „Gedankenlesen“ sei, dass sie mehr durch Gefühle, persönliche Erfahrungen, Mehrdeutigkeiten und eine stärkere Wahrnehmung von negativen Informationen geprägt seien als durch Objektivität, schreibt der amerikanische Psychologe und kognitive Verhaltenstherapeut Joel Minden. Oft eingeübt führen sie zu automatischen Gedanken, wie „Ich bin langweilig“ oder „Ich genüge nicht“, die dann immer wieder durch bestimmte Situationen ausgelöst werden. Außerdem können die kognitiven Verzerrungen Schuldgefühle und Gefühle des Versagens verursachen, trüben die Sicht auf soziale Situationen und schränken Verhaltensoptionen ein. Denn nehmen Menschen diese Gedanken als Tatsachen, tendieren sie dazu, aufzugeben oder anzugreifen– auch wenn diese Verhaltensweisen nicht angemessen sind, so Minden. Dann geht man der wortkargen Kollegin aus dem Weg oder konfrontiert sie mit Beschuldigungen, anstatt auf sie zuzugehen und sie zu fragen, was mit ihr los ist.  

Denkfehler können Schuldgefühle und Gefühle des Versagens verursachen.

„Diese kognitiven Verzerrungen können bei allen Menschen vorkommen, gerade wenn jemand keinen guten Tag hat, weil er zum Beispiel unausgeschlafen ist“, meint die Psychologin Fischer- Klepsch. Allerdings beobachte sie diese besonders häufig bei Menschen mit Selbstwertproblemen, Depression, sozialen Ängsten und anderen Angsterkrankungen. Studien bestätigen diesen Zusammenhang: Eine Studie an Kindern fand heraus, dass depressive Kinder eher zu kognitiven Verzerrungen neigen als nicht depressive Kinder. Auch Kinder mit niedrigem Selbstwertgefühl und ausgeprägter Angst neigten eher zu negativen kognitiven Fehlern. Dass die Denkfehler bei Menschen mit Depression oder Angsterkrankungen wie sozialer Angst öfter vorkommen, ließ sich seitdem in zahlreichen Studien bestätigen. In einer Studie aus dem Jahr 2002 untersuchten etwa Henrique und Leitenberg inwiefern kognitive Verzerrungen die depressive Stimmung und das soziale Selbstwertgefühl beeinflussen. Dazu erhoben sie an 174 Studierenden, inwiefern diese zu kognitiven Verzerrungen neigen. Anschließen sollten sich die Studienteilnehmenden vor einer Gruppe vorstellen, während die anderen ihre sozialen Fertigkeiten beurteilten. Die Forscher manipulierten die Ergebnisse; jeder erhielt ein schlechtes Feedback zurück. Anschließend erhoben die Forschenden die depressive Stimmung und das soziale Selbstwertgefühl der Studierenden in Reaktion auf das schlechte Feedback der anderen. Dabei beobachteten sie, dass jene Probanden, die mehr zu negativen kognitiven Fehlern wie „Personalisieren“ neigen, einen größeren Anstieg an depressiver Stimmung und aufwiesen, als Probandinnen die weniger zu diesen Denkfehlern neigen. Auch das soziale Selbstwertgefühl sank abhängig von der Tendenz zu negativen kognitiven Fehlern. Die Wissenschaftler schließen daraus, dass kognitive Fehler eine entscheidende Rolle in der Entstehung und Aufrechterhaltung von depressiver Stimmung spielen.

Um eigenen Denkfehlern auf die Schliche zu kommen, hilft es, aufzuschreiben welche Gedankengänge in welchen Situationen auftreten und zu welchen Verhaltensweisen sie führen.

Wie lassen sich diese Verzerrungen ablegen, bevor sie zu zwischenmenschlichen oder psychischen Problemen führen? „Der erste Schritt ist, sich die eigenen Denkfehler bewusst zu machen“, sagt Fischer- Klepsch. Achtsamkeit oder Meditation könne dabei helfen, die eigenen Gedanken bewusst wahrzunehmen. Dabei sei es besonders wichtig, die Gedanken unvoreingenommen zu betrachten, ohne sie als richtig oder falsch zu bewerten. Eine Möglichkeit den eigenen „Lieblingsdenkfehlern“ auf die Schliche zu kommen sei auch, die eigenen Gedanken und Verhaltensweisen aufzuschreiben und dabei zu schauen, welche Gedankengänge in welchen Situationen auftreten und zu welchen Verhaltensweisen sie führen. So kann jemand zum Beispiel feststellen, dass er die schlechte Laune der Chefin in Teambesprechungen unbewusst auf vermeintliche eigene Unzulänglichkeiten bezieht und sich zurücknimmt. Anschließend gehe es darum, die kognitiven Verzerrungen durch kritische Fragen zu entkräften. Um das zu tun, könne man folgende Fragen für sich beantworten: Gibt es reale Anhaltspunkte der sozialen Situation, die zu meinen Gedanken führen oder sind diese biografisch geprägt? Ist in meiner Kindheit oder Erziehung etwas vorgefallen, das mit diesen Gedanken in Zusammenhang stehen könnte? Gibt es Informationen der Situation, die ich noch nicht berücksichtigt habe? Auch ein kleines Gedankenexperiment kann an dieser Stelle hilfreich sein: Dazu stellt man sich vor, wie eine andere Person, zum Beispiel Person XY, die man für selbstsicherer hält, die Situation sehen würde. Und schlussendlich: Wenn ich das anders sehe, wie geht es mir dann und wie verhalte ich mich mit dieser neuen Erkenntnis?

Gibt es reale Anhaltspunkte der sozialen Situation, die zu meinen Gedanken führen oder sind diese biografisch geprägt?

Sozial uneindeutige Situationen persönlich zu nehmen und das eigene Verhalten daraufhin zu überprüfen, ist also in gewissem Maße normal und dient dem menschlichen Zusammenleben. Systematische Verzerrungen im Denken können hingegen führen dazu, dass Menschen Angelegenheiten zu persönlich nehmen oder die Schuld bei sich suchen, wo sie keine Verantwortung tragen. Um das zu vermeiden, ist es wichtig, die eigene Brille gut zu kennen, durch die ein Jeder und eine Jede auf die Welt blickt. Das wusste schon Epiktet als er schrieb: „Nicht die Dinge beunruhigen die Menschen, sondern ihre Meinungen über die Dinge“.