Die Psychologie der Überraschung

Überraschung hilft dem Menschen, sich an eine ständig wandelnde Umwelt anzupassen. Unerwartetes bleibt auch besser im Gedächtnis und regt die Neugier an. Doch das hat seinen Preis.

Veröffentlicht in der Süddeutschen Zeitung

Wann waren Sie das letzte Mal richtig überrascht? Vielleicht als Sie unerwartet ein besonders schönes Geschenk bekommen haben? Vielleicht mussten sie aber auch erleben, wie ihr Lieblingsfußballverein im entscheidenden Endspiel gegen einen als unterlegen geltenden Gegner verlor. Jeder Mensch, der schon einmal überrascht wurde, kennt das Gefühl. Es zu beschreiben fällt hingegen schwer: Mal ist es kaum wahrnehmbar, mal intensiv, angenehm oder unangenehm. Was macht das Gefühl der Überraschung also aus? Und wodurch wird es ausgelöst?

„Überraschung ist eine Reaktion auf das Unerwartete“, sagt Rainer Reisenzein, der an der Universität Greifwald zu dem Thema forscht. Dabei gäbe es zwei Arten von unerwarteten Ereignissen. „Die erste Art liegt vor, wenn durch neue Informationen oder Wahrnehmungen eine explizite Annahme widerlegt wird. Zum Beispiel: Ich bin mit einem Kollegen in meinem Büro verabredet. Deswegen bin ich überrascht, als es an der Tür klopft und eine andere Person einritt. Die zweite Art liegt vor, wenn ich keine spezifischen Überzeugungen zu einem Sachverhalt habe, sondern sich aus meinem gesamten Wissen und Weltbild ergibt, dass ein bestimmtes Ereignis nicht eintreten sollte“, erklärt er weiter. Diese Art von unerwartetem Ereignis liegt vor, wenn jemand im Büro sitzt, niemanden erwartet, es an der Tür klopft und plötzlich ein alter Schuldfreund eintritt.      

Überraschung versetzt den Körper in eine Art Bereitschaftsmodus

Schon Darwin widmete sich der Überraschung, als er den Emotionsausdruck über verschiedene Arten und Kulturen hinweg untersuchte: In seinem 1872 erschienen Buch veröffentlichte er einen Brief, den er von einem australischen Forscherkollegen erhalten hatte. Darin beschreibt dieser die Reaktion eines indigenen Ureinwohners, dessen Weltbild wahrscheinlich auf den Kopf gestellt wurde, als er scheinbar zum ersten Mal einen Menschen auf dem Rücken eines Pferdes sieht: „Er drehte sich herum und sah mich. Was er dachte was ich war, weiß ich nicht; aber ich habe nie zuvor ein klareres Bild von Angst und Erstaunen gesehen. Er stand da, unfähig ein Körperteil zu bewegen, festgenietet auf dem Boden, mit offenem Mund und starrenden Augen… Er blieb bewegungslos, bis unser Schwarzer sich ihm auf wenige Yards genähert hatte, als er plötzlich sein Bündel fortwarf und in einen Mulga- Busch sprang.“ Hochgezogene Augenbrauen und weit geöffnete Augen und Mund, so beschrieb Darwin den charakteristischen mimischen Ausdruck der Überraschung.

Heute ist aus der Forschung bekannt, dass Überraschung meist nur wenige Sekunden anhält und den Körper in eine Art Bereitschaftsmodus versetzt: Studien zeigen, dass unerwartete Reize große kortikale und subkortikale Teile des Gehirns aktiviert. Physiologisch  lässt sich Überraschung dadurch messen, dass die Hände schwitziger werden, die Herzrate steigt und die Pupillen geweitet sind. Wie auch in der Beschreibung des australischen Ureinwohners verdeutlicht, unterbricht oder verlangsamt die überraschte Person ihre Bewegungen und gibt Laute der Überraschung von sich.

Überraschung verstärkt die sie begleitenden Gefühle- aus diesem Grund gelten Überraschungsgeschenke als besonders beglückend.

Überraschung löst also bestimmte körperliche Vorgänge aus. Doch enthält sie auch eine charakteristische Gefühlsqualität? In ihrer ursprünglichen Form sei Überraschung erstmal neutral, sagt Reisenzein. „Wir stellen fest, dass etwas nicht mit unseren Erwartungen übereinstimmt, wodurch unser Gehirn ein Signal produziert, das wir subjektiv als Überraschung erleben.“ Allerdings trete Überraschung häufig mit anderen Emotionen auf. „Wenn etwas, das ich mir gewünscht habe, unerwarteter Weise nicht eintritt, bin ich enttäuscht. Wenn etwas erwartetes aber Ungewolltes nicht eintritt, bin ich erleichtert“, erklärt der Wissenschaftler. Außerdem verstärke Überraschung die sie begleitenden Gefühle: Denn unerwartete Wunscherfüllungen rufen stärkere positive Gefühle und unerwartete Wunschfrustrationen stärkere negative Gefühle hervor als erwartete. Das könnte erklären, warum Überraschungsgeschenke besonders große Freude bereiten.

Reisenzein hält die Überraschung für einen Katalysator weiterer Emotionen und einen Grenzfall der hedonischen Emotion. Diese Auffassung, dass Überraschung eine Emotion ist, gilt allerdings umstritten: Während der berühmte Emotionsforscher Paul Ekmann die Überraschung sogar zu den evolutionär entstandenen sieben Basisemotionen zählt, argumentieren andere Forschende, dass Überraschung keine Emotion sei, weil sie im Gegensatz zu den anderen Emotionen wie Furcht oder Freude nicht eindeutig als angenehm oder unangenehm (in der Fachsprache: hedonisch) erlebt werde. Wieder andere Wissenschaftler wie die holländischen Psychologen Noordewier und Breugelmans vertreten die Meinung, Überraschung sei immer zumindest zu Beginn unangenehm. Der Grund dafür: Menschen hätten ein Bedürfnis nach Vorhersagbarkeit, Konsistenz und Kontrollierbarkeit, welches durch ein unerwartetes Ereignis frustriert werde. Diese Wunsch- Frustration löse dann ein negatives Gefühl aus.

Überraschung leistet einen wichtigen Beitrag zur Anpassung des Menschen an seine Umwelt

Ob Überraschung nun eine Emotion ist oder nicht bleibt also noch zu klären. Aber in einem sind sich die meisten Überraschungsforschenden einig: Überraschung leistet einen wichtigen Beitrag zur Anpassung des Menschen an seine Umwelt. Diese Annahme ist zentraler Bestandteil des kognitiv-evolutionären Modells der Überraschung von Meyer und Co- Autoren. Ausgangspunkt dieser Theorie ist die Annahme, dass das menschliche Wissen in komplexe Strukturen, sogenannte Schemata, geordnet ist. Diese können als informelle Theorien über Objekte, Ereignisse und Situationen betrachtet werden. Wir haben zum Beispiel ein Auto-Schema: Es ist aus Metall, hat vier Räder, ist laut, kann schnell beschleunigen und ist gefährlich für einen Fußgänger. Wird dieses Schema durch das Geräusch eines Motors aktiviert, sind alle diese Annahmen schnell verfügbar, was uns dabei hilft, uns im Straßenverkehr angemessen zu verhalten. Um diese Funktion nachhaltig optimal zu erfüllen, müssen die Schema in einer sich ständig wandelnden Umwelt möglichst annähernd korrekt bleiben. Hier kommt der Überraschungsmechanismus ins Spiel, denn „er bewirkt, dass unsere Überzeugungen über die Welt, also unsere Schemata, ständig auf dem neuesten Stand gehalten werden“, sagt Reisenzein.

Laut dem Modell ist der Überraschungsmechanismus angeboren und unbewusst. Ununterbrochen gleicht er aktuelle Erfahrungen mit bestehendem Wissen ab. Entdeckt er eine Diskrepanz, entsteht ein Signal, welches als Gefühl der Überraschung wahrnehmbar ist. Je größer die Diskrepanz, desto stärker die Überraschung. Zusätzlich zu dem Gefühl kommt es zu einer Unterbrechung der kognitiven Prozesse und die Aufmerksamkeit wird abrupt auf das unerwartete Ereignis gerichtet. Anschließend beginnt ein bewusster Analyseprozess, durch den die Person Klarheit darüber erlangen möchte, was das Ereignis genau ist, wodurch es verursacht wurde und welche Implikationen es hat. „Wenn alles glatt läuft, werden dann die Überzeugungen und Hintergrundüberzeugungen aktualisiert. Damit verfügt man dann wieder über ein genaueres Weltbild, das für die zukünftige Handlungssteuerung wieder besser passt“, erklärt Reisenzein. Ob und inwieweit Überzeugungen geändert werden, hänge insbesondere von der Stärke der Vorüberzeugungen, der Fähigkeit zur Analyse des unerwarteten Ereignisses und dem Kontext ab. Werden wir also von einem leisen Elektroauto überrascht, bewirkt der Mechanismus, dass wir uns erstens schnell in Sicherheit bringen und zweitens unsere Annahmen über Autos aktualisieren (ein Auto muss nicht zwangsläufig laut sein), wodurch wir uns an eine veränderte Umwelt anpassen, und unsere Überlebenschancen erhöhen.

Der Überraschungsmechanismus hat also einen wichtigen informellen, motivationalen und adaptiven Nutzen. Doch hat er hat auch seine Kosten: Klingelt während einer Autofahrt unerwartet das Handy, kann eine Verlagerung der Aufmerksamkeit schwere Konsequenzen haben. „Dass eine Reaktion evolutionär adaptiv ist, heißt natürlich nicht, dass sie in jedem Fall einen Vorteil bringen muss. Sie kann in einzelnen Situationen sogar Nachteile bringen“, sagt Reisenzein. Gäbe es den Überraschungsmechanismus nicht, hätten Menschen eine größere Flexibilität und können sich frei entscheiden, wie viel Aufmerksamkeit sie der neuen Information widmen möchten. Ein solcher Mechanismus wäre jedoch nicht schnell und zwingend genug. Springt ein Säbelzahntiger aus dem Busch, mussten unsere Vorfahren schnell reagieren. Und erfährt ein Steinzeitmensch, dass ein verfeindeter Stamm überraschenderweise doch angreifen möchte, macht es Sinn, gezwungen zu sein, dieser neuen Information Aufmerksamkeit zu schenken. „Ähnlich wie bei der Angst überwiegen die Kosten deutlich, deshalb haben wir diesen Mechanismus“, sagt Reisenzein.

Überraschung hilft Kindern über ihre Umwelt zu lernen

Von der Kraft der Überraschung profitieren schon kleine Kinder: Die Forscherinnen Stahl und Feigenson zeigten in einer 2015  veröffentlichten Studie 11 Monate alten Babys einen Ball, der eine Rampe herunterrollt, an dessen Ende sich eine Wand befindet. In der Versuchsbedingung wurde anschließend die Wand hochgehoben und die Kinder sahen, dass der Ball wie auf magische Weise hinter die Wand gelangt war. Die Babys, die bezüglich des Verhaltens des Balls überrascht worden waren, untersuchten den Ball später länger. Sie warfen ihn öfter zu Boden und inspizierten anderweitig seine Beschaffenheit. Dieses Forschungsergebnis zeigt, dass Kleinkinder mehr und besser über ein Objekt lernten, wenn sie von diesem überrascht worden waren. Außerdem hilft sie den Kleinen dabei, aus einer schier unendlichen Anzahl von Informationen herauszufiltern, was des Lernens wert ist, schreiben die Autorinnen der Studie. Der amerikanische Psychologe Rousell untersuchte in einem 2012 veröffentlichten Artikel unter welchen Bedingungen Bemerkungen von Lehrern transformative Momente bei ihren Schülern auslösen können. Dazu analysierte er 179 lebensverändernde Anekdoten von Schülern und kam zu dem Schluss, dass Überraschung ein entscheidender Auslöser dieser war. Indem ein Erwachsener das Gegenteil macht, von dem was das Kind erwartet, kann die Grundüberzeugungen eines Kindes und damit letztendlich sein Leben verändert werden, schreibt Roussel.  

Die Überraschung dient also dazu, uns kurz- oder langfristig auf den Umgang mit dem Unerwarteten vorzubereiten. Sie hilft uns somit dabei, uns an eine ständig wandelnde Umwelt anzupassen und regt Neugier und Lernen an. Außerdem scheinen positive überraschende Ereignisse besondere Freude zu bereiten und besser Gedächtnis hängen zu bleiben: Ein guter Grund sich und andere ab und an zum Staunen zu bringen!