Die Psychologie der Lüge

Im Fernsehen sieht es so einfach aus: Die Kommissarin überführt den Verdächtnigen, weil er mit dem Fuß wackelt und schwitzt. Tatsächlich aber fehlen wissenschaftlich belegte Merkmale, um Lügen sicher zu erkennen.

Veröffentlicht am 21.08.2021 in der Süddeutschen Zeitung

Die Wahrheit steht uns allen ins Gesicht geschrieben, sagt Dr. Cal Lightman in der US-Serie „Lie to me“, deren Macher von Paul Ekman, dem bekanntesten Lügenforscher der Welt, beraten wurden. In der zweiten Folge der Serie soll Lightman im Auftrag der US-Armee einen Vergewaltigungsvorwurf aufklären. Der Lügenexperte registriert, dass das vermeintliche Opfer während seiner Aussage immer wieder kurz die Mundwinkel nach unten zieht. Für ihn ist klar: Sie glaubt ihren eigenenWorten nicht, sie lügt. Ihre Mimik hat den Lügenexperten unwillkürlich und im Sekundenbruchteil auf die richtige Fährte geführt. So funktioniert das in Film und Fernsehen. Nur: Ist es tatsächlich möglich, Lügen so einfach und eindeutig zu entlarven?

Viele Menschen immerhin glauben, Lügner gut erkennen zu können – und sind in Wahrheit ziemlich schlecht darin.Untersuchungen zeigen, dass es Probanden nur in etwa der Hälfte aller Fälle gelingt, zwischen Wahrheit und Lüge zu unterscheiden. Selbst jene, die es jeden Tag mit Lügnern zu tun haben, etwa Polizeibeamte, schneiden nicht viel besser ab. Eine Studie aus den USA mit 509 Versuchspersonen etwa untersuchte die Fähigkeit von Mitgliedern des Secret Service, der CIA, des FBI, von Richtern und Studenten. Dabei stellte sich heraus, dass lediglich die Trefferquote der Mitglieder des Secret Service merklich über dem Zufallsniveau lag. Das Erkennen von Lügen scheint Menschen nicht in dieWiege gelegt und nur eingeschränkt erlernbar zu sein. Vielleicht besteht deshalb seit jeher großes Interesse daran, objektiv messbare Parameter der Lüge zu finden.

„Während der Lügendetektor in den USA vor Gericht zum Einsatz kommen kann, hat er in Deutschland keinen Beweiswert“

Im Mittelalter beobachtete man, wie lange Verdächtige brauchen, um ein Stück Brot zu schlucken. Kauten sie lange, galt das als Hinweis auf Stress und damit auf eine Lüge. Sigmund Freud schrieb Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts: „Wessen Lippen schweigen, der schwätzt mit den Fingerspitzen; aus allen Poren dringt ihm der Verrat.“ Später sollte der Lügendetektor Täter auf frischer Tat ertappen. Die Technik beruht auf der Annahme, dass unwillkürliche körperliche Reaktionen eines Menschen auf dessen Lügen hinweisen. Das Gerät misst körperliche Veränderungen wie Hautleitwiderstand, Puls und Atemfrequenz, etwa während eines Verhörs. „Während der Lügendetektor in den USA vor Gericht zum Einsatz kommen kann, hat er in Deutschland keinen Beweiswert“, sagt der Rechtspsychologe Niels Habermann, der im Auftrag deutscher Gerichte die Glaubhaftigkeit von Zeugenaussagen beurteilt.

Der Grund: „Es gibt keine körperlichen Reaktionen, von denen man zuverlässig auf eine Lüge schließen kann.“ Wenn ein Mensch beispielsweise zu schwitzen beginnt, kann das auf Nervosität hindeuten. Daraus lässt sich aber nicht zwingend ableiten, dass er lügt. Vielleicht hat er auch Angst, dass man ihm die Wahrheit nicht glaubt. „Außerdem kann man die körperlichen Reaktionen trainieren und den Polygrafen damit manipulieren“, so Habermann.

Lassen sich Lügen an Verhaltensweisen, wie dem Vermeiden von Blickkontakt, erkennen?

Wenn sich Lügen nicht an Körperreaktionen erkennen lassen, vielleicht dann an Verhaltensweisen? Eine Meta–Analyse aus dem Jahr 2007 untersuchte den Zusammenhang zwischen elf beobachtbaren Verhaltensweisen von Probanden – und deren Lügen. So gilt etwa unter Laien das weitverbreitete Vorurteil, dass ein Mensch, der beim Sprechen den Blickkontakt vermeidet, mindestens etwas zu verbergen hat. Die Auswertung von 41 Studien zu dem Thema aber zeigte, dass es dafür keine ausreichenden Belege gibt. Auch das weitläufige Bild eines Lügners als „nervöser Zappelphilipp“ scheint falsch zu sein: Häufiges Nicken sowie Fuß-, Beinund Handbewegungen traten bei den untersuchten Probanden sogar etwas seltener auf, wenn sie schwindelten. In einer Veröffentlichung aus dem Jahr 2020 erklären die Psychologen Aldert Vrij und Ronald P. Fisher diesen Befund mit verdeckter Selbstkontrolle: Lügner geben sich mehr Mühe, ihre Nervosität zu vertuschen als Unschuldige, die Angst haben, zu Unrecht für schuldig gehalten zu werden.

Weil der Zusammenhang zwischen Verhaltensmerkmalen und Lügen schwer nachweisbar und zum Teil sogar widersprüchlich ist, halten manche Wissenschaftler die Analyse der Sprache für die vielversprechendere Methode der Lügenerkennung. In einer experimentellen Studie der Psychologin Lyn M. Van Swol und ihrer Kollegen sollten die Teilnehmer Geld aufteilen. Da nur die austeilende Person Auskunft über die Gesamtsumme erhielt, hatte sie die Möglichkeit, sich unbemerkt mehr Geld zuzuteilen. Jene Versuchspersonen, die anschließend bezüglich der Gesamtsummelogen, benutztenmehr Pronomen der dritten Person, Zahlenangaben und vulgäre Ausdrücke. Generell verwendeten sie für ihre Rechtfertigung mehr Wörter, was die Studienautoren als „Pinocchio Effekt“ bezeichneten. Allerdings hing der sprachliche Ausdruck auch von der Haltung des Kommunikationspartners ab: Ehrliche Personen zeigten gegenüber misstrauischen Gesprächspartnern ähnliche sprachliche Auffälligkeiten wie Lügner.

Können unkontrollierbare Gesichtsausdrücke, sogenannte Mikroexpressionen, Lügner entlarven?

Bleibt die Frage, was mit den unkontrollierbaren Gesichtsausdrücken ist, anhand derer der Lügenexperte aus der US-Fernsehserie„Lie to me“ Lügen erkannt haben will. Tatsächlich ist diese Technik nicht nur Fiktion, sondern basiert auf der Theorie und Forschung des Psychologen Paul Ekman. Er untersucht Mikroexpressionen, Reaktionen von Muskelgruppen im Gesicht, die oft nur für einen Sekundenbruchteil aufblitzen und dem Bewusstsein entgehen – und daher für Lügner kaum kontrollierbar sind. Ekman behauptet, erkennen zu können, ob eine Emotion echt oder vorgetäuscht ist. Doch so einfach ist es in der Realität nicht; ähnlich wie beim Lügendetektor gilt: Selbst wenn ein geschulter Beobachter anhand dieser Methode verdeckte Emotionen erkennen könnte, bedeutet das nicht, dass er zweifelsfrei weiß, warum eine Person diese Emotion fühlt. Die Frage nach dem „Warum“ ist aber zentral, wenn es etwa darum geht, einen Straftäter zu überführen. Ekmans Theorie ist daher umstritten – auch, weil sie nicht ausreichend wissenschaftlich belegt ist.

Rechtspsychologe Habermann überprüft Aussagen auf Realkennzeichen: Charakteristika einer Aussage, die sich schwer erfinden lassen.

Wenn Rechtspsychologe Niels Habermann im Auftrag des Gerichts die Glaubhaftigkeit einer Aussage beurteilen soll, spielen Mikroexpressionen für ihn jedenfalls keine Rolle. Er prüft vielmehr die Aussagen auf Realkennzeichen. Das sind Charakteristika einer Aussage, die sich schwer erfinden lassen: Wie emotionale Inhalte, logische Konsistenz, fremd- und eigenpsychisches Erleben, nebensächliche Details und raum-zeitliche Verknüpfungen. „Wir lassen uns das vermeintlich Erlebte ganz genau erzählen, fragen bei Unklarheiten immer wieder nach: Wie ist die Situation entstanden, wie geendet, was wurde dabei wahrgenommen, gedacht, gemacht, gefühlt? Wie würde ein neutraler Beobachter das Geschehen beschreiben? Dann schaue ich, ob die Geschichte in sich stimmig ist und ob sie zu dem passt, was früher schon darüber berichtet wurde“, erklärt Habermann sein Vorgehen. Das sei derzeit die beste Methode, um herauszufinden, ob eine Aussage auf wahrem Erleben basiert. Während des Gesprächs achte er auch auf non-verbale Merkmale. Aber diese dienten ihm höchstens als Hinweis, um nochmal genauer nachzufragen. Denn: „Wissenschaftlich abgesicherte Lügen-Indikatoren gibt es nicht“, so Habermann. Deshalb gilt die sogenannte aussagepsychologische Glaubhaftigkeitsbeurteilung, wie Habermann sie durchführt, vor Gericht als einzig zulässiges Mittel, um Wahrheit und Lüge voneinander zu unterscheiden.

Das Gehirn von pathologischen Lügnern zeigt Auffälligkeiten

Für die Zukunft der Aussagepsychologie hält Habermann neurowissenschaftliche Untersuchungen für vielversprechend. Erste Ergebnisse gibt es bereits: Eine Studie an pathologischen Lügnern zeigt, dass der präfrontale Cortex im Zusammenhang mit Lügen eine wichtige Rolle spielt. Die Wissenschaftler fanden dort bei pathologischen Lügnern im Vergleich zu Kontrollpersonen 22 bis 26 Prozent mehr weiße Hirnmasse, der eine wichtige Rollein der Informationsübermittlung zugeschrieben wird, und 36 bis 42 Prozent weniger graue Hirnmasse, die wichtig für die Informationsverarbeitung ist.


Die Erforschung der neuronalen Grundlage der Lüge steckt noch in den Kinderschuhen. Vielleicht wird es in der Zukunft möglich sein, anhand von Gehirnscans
den Wahrheitsgehalt von Täteraussagen zu überprüfen. Das könnte die Welt zu einem faireren Ort machen. Denn Fehler in der Rechtsprechung haben nicht nur gravierende Konsequenzen für die Betroffenen, sondern wirken sich auch negativ auf die Gesellschaft aus. Aber was ist mit den vielen kleineren Lügen des Alltags – einer geschönten Wahrheit oder eines vorgetäuschten Lachens? Menschen scheinen gut im Verschleiern und schlecht im Enttarnen von Lügen zu sein. Vielleicht hat das einen guten Grund. Denn Lügen sind nicht per se schlecht, sondern scheinenim sozialen Gefüge sogar eine wichtige Rolle zu spielen. Würde jeder Mensch zu jeder Zeit immer schonungslos genau das sagen, was er denkt, wäre wohl ein harmonisches Miteinander deutlich komplizierter zu bewerkstelligen. Der Philosoph David Nyberg hat dazu jedenfall seine klare Meinung: „Die Wahrheit zu sagen ist moralisch überbewertet. Ohne Täuschung und Irreführung wäre unser komplexes Beziehungsleben völlig undenkbar.

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