Können wir im Schlaf lernen?
Im Schlaf schweigt das Bewusstsein. Aber Lernen kann das Gehirn trotzdem. Wie funktioniert das und was könnte man tun, um den Effekt noch besser zu nutzen?
Veröffentlicht am 13.05.2022 in der Süddeutschen Zeitung
Wir verschlafen ungefähr ein Drittel unseres Lebens. Bei einer Lebenserwartung von 80 Jahren sind das circa 26 Jahre. Wäre es nicht praktisch, diese Lebenszeit effizient nutzen zu können? Beispielsweise um schlauer oder selbstbewusster zu werden? Anfang des 20. Jahrhunderts entwickelte der Amerikaner Alois B. Salinger eine Maschine, die genau das versprach. Sein sogenanntes Psycho- Phone berieselte seine Anwender über Nacht mit Botschaften, wie „Ich strahle Liebe aus. Ich habe eine faszinierende und attraktive Persönlichkeit.“ Laut Salinger wurden die Anwender dadurch nicht nur selbstbewusster, sondern es gelang einigen von ihnen in Folge der nächtlichen Beeinflussung sogar, einen Partner zu finden. Über Nacht selbstbewusster, erfolgreicher oder schlauer werden– ist das mehr als ein Traum? Können wir im bewusstlosen Zustand des Schlafes Informationen aufnehmen und abspeichern, die unser Verhalten beeinflussen?
Schlaf scheint aus kultureller Perspektive überflüssig und zudem gefährlich zu sein. Warum wurde er im Laufe der Evolution dann nicht zurückgedrängt?
Diese Frage ist komplex und seit vielen Jahrzehnten beforscht. Um ihrer Antwort näher zu kommen, müsse man zuerst verstehen, welche Funktion der Schlaf generell hat, sagt der Schlafforscher Jan Born der Universität Tübingen. „Wir verlieren im Schlaf unser Bewusstsein und damit die Fähigkeit unser Verhalten zu kontrollieren. Das ist ein riskanter Zustand, wenn man in freier Wildbahn lebt, denn man wird schnell die Beute eines Wildtieres. Deswegen frage ich mich als Schlafforscher, welche Funktion ein Zustand haben kann, der einen so wehrlos werden lässt“, so Born. Schlaf scheint aus kultureller Perspektive überflüssig und zudem gefährlich zu sein. Warum wurde er im Laufe der Evolution dann nicht zurückgedrängt, sondern – im Gegenteil – immer differenzierter?
Bereits seit über hundert Jahren vermuten Wissenschaftler, dass Schlaf eine wichtige Funktion für das Gedächtnis spielt. Der deutsche Psychologe Hermann Ebbinghaus erkannte bereits Anfang des 20. Jahrhunderts, dass wenn ein Mensch etwas lernt und danach schläft, es länger in seinem Gedächtnis bleibt. Die amerikanischen Wissenschaftler Jenkins und Dallenbach untersuchten diese Frage später anhand klassischer Gedächtnisexperimente systematisch: Sie ließen ihre Probanden sinnfreie Silben lernen. Anschließend duften die Versuchspersonen entweder schlafen oder mussten wach bleiben. Dabei stellten die Wissenschaftler fest, dass jene Probanden, die geschlafen hatten, das Gelernte später besser abrufen konnten. Seitdem wurden ungefähr zweitausend Forschungsarbeiten zu dem Thema publiziert, von denen fast alle Jenkins und Dallenbachs Ergebnisse bestätigen. Heute gilt es deshalb als gut bewiesen, dass während des Schlafs, insbesondere während des Delta-Schlafstadiums, tagsüber gelernte Gedächtnisinhalte im Hippocampus reaktiviert und dadurch in das Langzeitgedächtnis übertragen werden. Dieser Prozess wird als Konsolidierung bezeichnet. Schlafforscher wie Born glauben, dass die wichtigste Funktion des Schlafes die Bildung des Langzeitgedächtnisses sei, da dies erklären könnte, warum wir im Schlaf das Bewusstsein verlieren müssen. Bei der Bildung des Langzeitgedächtnisses im Schlaf werden nämlich dieselben neuronalen Netzwerke genutzt, wie bei der bewussten Verarbeitung von eintreffenden Informationen im wachen Zustand. „Langzeitabspeicherung und aktuelle Verarbeitungsprozesse in den gleichen Netzwerken würden sich vermutlich gegenseitig stören. Ich spekuliere, dass die Langzeitabspeicherung deswegen in dem bewusstlosen Zustand des Schlafes verlegt wird“, erklärt Born.
Im Schlaf werden Gedächtnisinhalte in das Langzeitgedächtnis übertragen
Die Forschenden Tononi und Cirelli schauten sich in zahlreichen Studien elektronenmikroskopisch die Synapsen, also die Verbindungsstellen zwischen Neuronen im Gehirn, welche kreisartig verschaltet sind, vor und nach dem Schlaf, so wie nach Wachphasen an. Dabei beobachteten sie, dass während des Schlafens bestimmte synaptische Verbindungen geschwächt werden. Was auf den ersten Blick kontraproduktiv wirkt, hat eine wichtige Funktion. Born erklärt: „Auf neuronaler Ebene geschehen Lernen und Informationsaufnahme tagsüber dadurch, dass Synapsen stärker und effizienter werden. Wären wir unendlich wach und würden dabei unendlich viele Informationen aufnehmen, dann würden die synaptischen Verbindungen immer größer werden. Das Gehirn würde immer mehr Energie verbrauchen und irgendwann sprichwörtlich platzen.“ Laut Tononis und Cirellis Theorie der zellulären und neuronalen Homöostase werden die potenzierten Synapsen im Schlaf herunterreguliert, bis das neuronale Netzwerk wieder in normalem Maße ausgelastet ist. Erst durch diesen Prozess ist das Gehirn in der Lage, am nächsten Tag wieder effektiv Neues zu lernen. Würden im Schlaf alle Synapsen herunterreguliert werden, würde das jedoch bedeuten, dass Schlaf vor allem zum Vergessen beiträgt. Insofern dies aber den Befunden Jenkins und Dallenbachs und vielen anderen psychologischen Studien widerspricht, nehmen auch Tononi und Cirelli an, dass einige Langzeitgedächtnisinhalte von dem globalen Herunterregulieren der Synapsen verschont bleiben.
Durch den Schlaf ist das Gehirn in der Lage, am nächsten Tag wieder effektiv Neues zu lernen
Doch wonach entscheidet das schlafende Gehirn welche Inhalte gefestigt und welche aussortiert werden? In einer Studie ließen Born und sein Team Probanden Wortpaare und bestimmte Bewegungsfolgen lernen. Der Hälfte der Versuchspersonen teilten die Wissenschaftler vor dem Lernen mit, dass sie das Gelernte zu einem späteren Zeitpunkt wiedergeben müssen, während die andere Hälfte die Information erhielt, die Inhalte hätten für den zweiten Teil des Experiments keine Relevanz. Anschließend schliefen die Teilnehmer entweder oder blieben wach. Im zweiten Teil des Experiments sollten alle Versuchspersonen das Gelernte möglichst korrekt wiedergeben. Dabei zeigte sich, dass nur die Probanden wesentlich vom Schlaf profitiert hatten, die beim Lernen gewusst hatten, dass sie die Inhalte nochmal brauchen würden. Scheinbar werden im Schlaf also besonders jene Inhalte gefestigt, die wir bereits beim Lernen als wichtig markieren. Außerdem deuten einige Forschungsarbeiten darauf hin, dass emotional beladene Inhalte im Schlaf eher abgespeichert werden. Deswegen wird in der wissenschaftlichen Szene diskutiert, ob Menschen nach einem Trauma von Schlafentzug profitieren, weil so eine zu starke Gedächtnisbildung für das Trauma vielleicht verhindert werden kann. Die Tatsache, dass Menschen nach einem Trauma schlechter schlafen, könnte jedenfalls auf diese natürliche Schutzreaktion des Körpers hindeuten.
Beim Lernen als wichtig markierte Inhalte, werden über Nacht besser abgespeichert
Dieser Selektionsmechanismus unseren Gehirns lässt sich von außen beeinflussen: Born und sein Team präsentierten Versuchspersonen Rosenduft, während diese sich die Position von Objektpaaren auf einem Bildschirm – ähnlich wie bei einem Memory-Spiel – einprägen sollten. Dadurch lernten die Versuchspersonen eine Assoziation zwischen dem Duft und den Objektpositionen. Während dem Schlaf präsentierten die Forschenden den Rosenduft erneut, was die damit assoziierten Lerninhalte reaktivierte. Die Auswertung ihrer Daten zeigte, dass die Versuchspersonen, die den Duft während des Delta- Schlafes wieder zu riechen bekommen hatten, sich am nächsten Tag besser an die Ortsinformation erinnern konnten. Dies deutet darauf hin, dass assoziierte Gedächtnisinhalte im Schlaf gezielt reaktiviert und dadurch gefestigt werden können, erklärt Born.
Das menschliche Gehirn geht regelmäßig in den Offlinemodus: Es trennt sich vom Bewusstsein, um nach bestimmten Selektionsprinzipien Eindrücke zu festigen und andere auszusortieren. Im Anbetracht der Tatsache, dass das schlafende Gehirn alles andere als inaktiv ist, liegt die Frage nahe: Können wir im Schlaf auch neue Informationen aufnehmen und behalten, so wie der geschäftige Psycho- Phone Verkäufer Salinger schon in den späten 1920er Jahren versprach?
Können wir im Schlaf auch Neues lernen?
Erste Studien unterstützten Salingers Behauptungen, wurden aber später verworfen, als Forschende in den 50. Jahren begannen, mittels neuer technischer Geräte die elektrische Aktivität des Gehirns während des Schlafes zu beobachten. Dabei stellte sich heraus, dass wenn die Versuchsteilnehmer vermeintlich etwas im Schlaf gelernt hatten, sie dabei tatsächlich zumindest kurzzeitig wach waren. Die Antwort auf die Frage, ob im Schlaf Neues gelernt werden kann, war nach diesem und ähnlichen Forschungsergebnissen lange ein deutliches Nein. Erst Jahre später nahmen Forschende Salingers Ansatz wieder auf. Dieses Mal mit besseren Forschungsgeräten und einfacheren Lerninhalten.
Assoziatives Schlaflernen könnte Menschen dabei helfen, das Rauchen aufzugeben
In einer Studie aus dem Jahr 2012 präsentierten die Forschenden Arzi und Sobel Versuchspersonen im Schlaf zwei verschiedene Gerüche , die unterschiedlich angenehm waren und paarten diese mit Tönen. Die Versuchspersonen lernten während des Schlafes eine Assoziation zwischen Gerüchen und Tönen. Das zeigte sich dadurch, dass sie nach einiger Zeit auf die alleinige Darbietung des Tons mit einem Riechreflex reagierten– welcher abhängig von dem assoziierten Geruch war. Auch am darauffolgenden Tag beobachteten die Wissenschaftler den Lerneffekt, dessen sich die Versuchspersonen nicht bewusst waren. Zwei Jahre später wandten die Wissenschaftler diese Erkenntnisse an Menschen an, die das Rauchen aufgeben wollten. Die Versuchspersonen lernten während des Schlafes eine Assoziation zwischen dem Geruch von Zigarettenrauch und übelriechendem Fisch, mit dem Ergebnis, dass sie sich in den folgenden Tagen circa 30% weniger Zigaretten anzündeten. Diese Konditionierung war nur erfolgreich, wenn sie im Schlaf vorgenommen wurde. Wahrscheinlich, weil dann bewusste Abwehrmechanismen nicht wirken, vermuten die Forschenden. Damit könnte assoziatives Schlaflernen in der Zukunft genutzt werden, um gewünschte Verhaltensänderungen einzuleiten.
Auch Menschen mit Lernschwierigkeiten oder ADHS könnten vom Schlaflernen profitieren
Doch, kann das menschliche Gehirn im Schlaf auch komplexere Informationen als einzelne Töne und Gerüche aufnehmen? Forschende der Universität Bern spielten in einer 2019 veröffentlichten Studie schlafenden Versuchspersonen Wortpaare wie „Tofer= Schlüssel“ oder „Guga= Elefant“ vor. Am nächsten Tag sollten die Versuchspersonen angeben, ob das Phantasiewort ein großes oder kleines Objekt bezeichnet, was ihnen zu einem Großteil gelang. Sich bewusst an die Worte erinnern konnten die Versuchspersonen jedoch nicht. Die Berner Forschenden glauben aber, dass die nächtliche Lerneinheit unbewusste Gedächtnisspuren hinterlasse, die das Lernen derselben Information am Folgetag erleichtere. Davon könnten zum Beispiel Menschen mit Lernschwierigkeiten oder Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom profitieren.
Diese Forschungsergebnisse zeigen, dass das schlafende Gehirn neue Assoziationen lernen kann, die das Verhalten nachhaltig beeinflussen. Allerdings sind die Lerninhalte eher einfacher Natur und am nächsten Tag nicht bewusst zugänglich– hier scheinen die Grenzen des Schlaflernens zu liegen. Das Lernen neuer Vokabeln oder Glaubenssätze im Schlaf ist hingegen nicht möglich, da ab einer gewissen Komplexität des Verarbeitens bei der Aufnahme der Information, das Gehirn wach sein müsse, sagt Born.
Ein in Stein gemeißelten Gedächtnisinhalt gibt es nicht
Das Gehirn bleibt im Schlaf nicht stehen, es befindet sich nur in einem anderen Modus. „Wenn man mich fragt, ob man im Schlaf Neues lernen kann, dann muss ich sagen: Das ist nicht die Aufgabe des Schlafes. Die Funktion des Schlafes ist, zu verdauen, was man tagsüber gelernt hat, es wiederzukäuen und es dann in geordneter Weise so zu transformieren, dass man damit später besser umgehen kann“, sagt Born. Ein in Stein gemeißelten Gedächtnisinhalt gibt es nicht. Das Gedächtnis wird geformt und verändert– bei Tag und bei Nacht. Wobei die Nacht Struktur und Ordnung zu bringen scheint.
Infokasten: Wie lassen sich diese Forschungsergebnisse praktisch anwenden?
Im Schlaf werden Gedächtnisinhalte nachbearbeitet, gefestigt und langfristig abgespeichert.Daher rät Born Lerninhalte vor dem Zubettgehen aber mit etwas zeitlichem Abstand zu wiederholen, da das die Wahrscheinlichkeit erhöhe, dass diese Inhalte im Schlaf in das Gedächtnis übertragen werden. Gleichzeitig könne man die Gedächtnisbildung insgesamt unterstützen, indem man z.B. durch regelmäßige Schlafzeiten, die an den Rhythmus von Tag und Nacht angelehnt sind, für einen guten Schlaf sorgt.
Beim Lernen als wichtig markierte Inhalte, werden über Nacht besser abgespeichert. Deshalb rät Born, sich etwa bei langfristigem Prüfungslernen bewusst zu machen, dass die Inhalte später wieder gebraucht werden.
Gedächtnisinhalte werden vor allem im Deltaschlafstadium abgespeichert. Verstärkt man die hohen Hirnstromwellen experimentell, die in diesem Schlafstadium auftreten, kann man dadurch auch die Gedächtnisbildung verbessern. Mittlerweile gibt es schon Start- Ups, die diesen Effekt für alle im eigenen Schlafzimmer nutzbar machen wollen. Ein Gerät misst in der Nacht die Schlafphasen und präsentiert während der Delta- Phase leise Töne im Rhythmus der Deltawellen, die diese Wellen dann verstärken, wie eine Schaukel, die in Schwingung versetzt wird. So wird der Delta- Schlaf intensiviert, was die Gedächtnisleistung verbessert, sagt Born. Er glaubt, dass es in der Zukunft auch möglich sein wird, die Töne vor dem Schlaf gezielt mit bestimmten Lerninhalten zu assoziieren. Werden die Töne im Delta- Schlaf dann abermals abgespielt, reaktivieren sie die assoziierten Lerninhalte, wodurch diese besser abgespeichert werden. Die Möglichkeit, den Schlaf mit Hilfe von Reizen, die im Rhythmus von Hirnwellen im Schlaf dargeboten werden, zu intensivieren, sei auch für Menschen mit Schlafstörung einsetzbar und werde Medikamente mit ihren vielen Nebenwirkungen in der Zukunft ersetzen, glaubt Born.
Mittels „Zwei- Schritt- Lernverfahren“ lernen erleichtern: Die Berner Forschenden glauben, dass die nächtliche Lerneinheit unbewusste Gedächtnisspuren hinterlasse, die das Lernen derselben Information am Folgetag erleichtere. Davon könnten zum Beispiel Menschen mit Lernschwierigkeiten oder Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom profitieren.
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