Die Psychologie des Gerührt-Seins
Wer gerührt ist, ist glücklich und traurig zugleich. So seltsam das ambivalente Gefühl ist- es hat eine wichtige Funktion.
Veröffentlicht am 17.01.2022 in der Süddeutschen Zeitung
Wann hatten Sie das letzte Mal Tränen in den Augen, einen Kloß im Hals oder Gänsehaut, nachdem Sie etwas Schönes erlebt haben? Vielleicht waren Sie Zeugin einer außergewöhnlichen Tat, haben einen alten Freund nach vielen Jahren endlich wiedergesehen, ein Neugeborenes im Arm gehalten oder der Hochzeit Ihres Kindes beigewohnt. Auch Kunstwerke, Reden und sogar Werbung können denselben emotionalen Zustand auslösen. Obwohl die meisten Menschen dieses Gefühl gut kennen, das wir als Rührung bezeichnen, ist es schwer zu greifen: Warum äußert es sich derart merkwürdig, dass ein Mensch beispielsweise weint, obwohl er etwas Positives erlebt?Was eint diese unterschiedlichen Situationen, die emotional bewegen? Und hat die Rührung eine evolutionäre Funktion – motiviert sie einen Menschen zu einem bestimmten Verhalten, so wie Angst Flucht bewirken kann, Wut Verteidigung und Freude Annäherung?
Ein Wermutstropfen macht die Freude gleich doppelt schön
Laut dem digitalen Wörterbuch der deutschen Sprache bedeutet Rührung innere Bewegung, Ergriffenheit und steht semantisch den Wörtern Dankbarkeit, Mitleid, Träne, weinen, überkommen, übermannen nah. Die Psychologie hat dem Gefühl der Rührung lange keine große Aufmerksamkeit gewidmet; selbst in der Emotionsforschung taucht der Begriff bis heute selten auf. Eine der wenigen Emotionsanalysen, die das Gefühl der Rührung enthalten, stammt von Lothar Schmidt-Atzert und Walter Ströhm. Die Wissenschaftler legten den Studienteilnehmenden 56 Emotionsbegriffe vor, die diese gruppieren sollten. Anschließend analysierten die Wissenschaftler die Daten und validiertenihre Ergebnisse mit anderen Studien. Ihre Analyse ergab 14 Emotionskategorien: Abneigung, Ärger, Neid, Frustration, Langeweile, Angst, Erregung, Unruhe, Traurigkeit, Scham, Freude, Stolz, Zuneigung und Überraschung. Wobei Rührung zusammen mit Mitgefühl, Dankbarkeit, Verehrung, Wohlwollen und Zutrauen der Kategorie Zuneigung zugeordnet wurde.
Eine der frühen Studien zu dem Phänomen der Rührung stammt aus Japan, wo der Zustand als Kandoh bezeichnet wird. Im Jahr 1999 erhob Akihiko Tokaji, welche Emotionen Menschen empfinden, wenn sie Kandoh erleben: 73,2 Prozent der Befragten nannten Freude und Glück, 40,6 Prozent Traurigkeit, 13,8 Prozent Überraschung und acht Prozent Respekt. Welche körperlichen Parameter dem Zustand der Rührung zugrundeliegen, untersuchen am Max-Planck-Institut für empirische Ästhetik in Frankfurt Eugen Wassiliwizky und sein Team. Dazu zeigen sie Versuchspersonen bewegende Filmausschnitte und messen währenddessen deren expressive, physische und neurophysiologische Reaktionen. Besonders interessieren sich die Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen für die Kontraktion zweier zentraler Muskeln im Gesicht: die des Corrugator, der schräg über den Augenbrauen sitzt und bei negativen Emotionen aktiviert wird, sowie die des Zygomaticus, der für das Lächeln zuständig ist. „Was wir beobachten, ist eine gleichzeitige Aktivierung dieser beiden Muskeln in den Rührungsmomenten“, sagt Wassiliwizky. Außerdem seien feuchte Hände, eine höhere Herzrate und in Peakmomenten auch Gänsehaut charakteristisch – also typische Merkmale innerer Erregung. Auf neurophysiologischer Ebene beobachten die Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen während der Gänsehautmomente zudem eine Aktivierung des primären Belohnungssystems im Gehirn.
Wenn wir gerührt sind, verspüren wir gleichzeitig mehrere Emotionsanteile, die unterschiedlich angenehm sind
Diese Forschungsergebnisse deuten darauf hin, dass ein gerührter Mensch gleichzeitig entgegengesetzte Gefühle erlebt: „Rührung ist ein gemischter emotionaler Zustand. Wenn wir gerührt sind, verspüren wir gleichzeitig mehrere Emotionsanteile, die unterschiedlich angenehm sind“, erklärt Wassiliwizky. Besonders oft entstehe Rührung aus einer Mischung von Freude und Trauer. Er veranschaulicht dies an einem Beispiel: „Wenn ich in einem Film eine Szene der Vergebung sehe, freue ich mich. Gleichzeitig fühle ich einen Wermutstropfen, da die Vergebung für etwas gegeben wurde, was zuvor negative Emotionen in mir ausgelöst hat und immer noch nachschwingt.“ Bei diesem Szenario steht die positive Emotion im Vordergrund, die negative Emotion im Hintergrund.
Umgekehrt könne das Gefühl der Rührung auch entstehen, wenn die negative Emotion dominant sei und eine positive im Hintergrund mitschwinge. Ein klassisches Beispiel hierfür sei der Heldentod: „Wenn der Held einer Geschichte am Ende stirbt, stimmt uns das traurig. Stirbt er jedoch für ein höheres Gut, wird der Tod moralisch aufgewertet, was wir als emotional positiv erleben“, sagt Wassiliwizky.
Die moralische Aufwertung ist eine Form der Freude und steht in besonders starkem Zusammenhang zum Gefühl der Rührung, erklärt er weiter. Sie entstehe, wenn ein Mensch ein Verhalten beobachtet, das mit seinen Werten übereinstimmt – besonders wenn dies unter schweren äußeren Bedingungen geschieht. Eins der wohl bekanntesten Beispiele hierfür sei das tragische Ende des Filmes „Titanic“: Der Held stirbt, damit seine Geliebte überleben kann. Die negative Emotionskomponente der Rührung habe die allgemeine Funktion, das Gefühlsgemisch in seiner Erlebnisqualität zu intensivieren. Denn das menschliche Gehirn unterliegt einem evolutionär entstandenen Bias: Es priorisiert negative vor positiven Informationen.
Weinen die Eltern während der Vermählung ihres Kindes, geschehe dies, weil sie neben der Freude unterbewusst auch das Ende eines Lebensabschnitts wahrnehmen
Doch warum kann das Gefühl auch beim Anblick eines Neugeborenen oder der Hochzeit des eigenen Kindes entstehen, in Momenten, die augenscheinlich nicht traurig sind? Auf den zweiten Blick zeigt sich, dass auch diese Momente nicht rein positiv sind. Denn beim Anblick eines Neugeborenen nehmen wir unterbewusst die Fragilität des hilflosen Lebewesens wahr. „Das sind evolutionär sehr alte Gefühle, die automatisch in uns getriggert werden und derer wir uns nicht immer bewusst sind“, sagt Wassiliwizky. Weinen die Eltern während der Vermählung ihres Kindes, geschehe dies beispielsweise, weil sie neben der Freude unterbewusst auch das Ende eines Lebensabschnitts wahrnehmen, in dem das Kind noch Teil ihres eigenen Familienlebens war.
In einer Studie aus dem Jahr 2014 untersuchen Milena Kühnast und Kollegen, welche Situationen Menschen hauptsächlich mit dem Begriff der Rührung in Verbindung bringen. Dazu legten sie mehr als 800 an der Studie Teilnehmenden Begriffe wie „emotional berührt“ oder „emotional bewegt“ vor, zu denen diese frei assoziieren sollten. Dabei nannten die Versuchspersonen hauptsächlich bedeutende Lebensereignisse wie Geburt, Tod und Hochzeit, Kunstwerke und Katastrophen. Diese auslösenden Situationen eint, dass sie persönlich und sozial bedeutungsvoll sind: Sie verbinden die erlebende Person mit einer sozialen Gruppe – sei es mit der Familie, Freunden oder der Nation. Viele Dramen, Gedichte und Musikstücke bewegen, weil sie genau dieses Gefühl der Zugehörigkeit ansprechen. Auch das Miterleben einer Katastrophe wird durch die dadurch ausgelöste Empathie und Solidarität mit den Betroffenen von einem ausschließlich traurigen zu einem bewegenden Ereignis, erklären die Autorinnen und Autoren der Studie. Ob eine Hochzeit, ein Gemälde oder die mediale Berichterstattung über ein Unglück: All diese Situationen verbindet außerdem, dass die gerührte Person sich in der Regel in einer Zuschauerrolle befindet.
Rührung sorgt dafür, dass ein Mensch sich emotional an den Auslöser des Gefühls bindet
Emotionen haben eine wichtige Funktion: Sie geben Menschen Handlungshinweise. Angst beispielsweise führt tendenziell dazu, dass ein Mensch sich vorsichtiger verhält. Rührung hingegen löst nicht unmittelbar eine Handlung aus. Aber sie sorgt dafür, dass ein Mensch sich emotional an den Auslöser des Gefühls bindet. Damit gehört Rührung zu den Emotionen der Bindung und erfüllt als solche eine wichtige Rolle. Viele Fragen zum Phänomen der Rührung sind bis dato unerforscht. Zum Beispiel, in welcher Mischung die unterschiedlichen Emotionen aufeinandertreffen müssen oder welche Menschen eher Rührung
verspüren. Eine Studie gibt erste Hinweise auf einen Persönlichkeitsfaktor, der in Zusammenhang mit Rührung stehen könnte: die Empathie. Für eine Studie, die im Jahr 2016 im Fachjournal Frontiers of Psychologyerschien, wurde Versuchspersonen traurige Musik vorgespielt und zugleich die individuelle Fähigkeit zur Empathie erhoben. Dabei stellten die Forschenden einen Zusammenhang zwischen höheren Werten in Empathie und Gerührtsein durch traurige Musik fest. Damit könnte die Studie erste Hinweise darauf geben, dass empathischere Menschen sich eher durch traurige Musik bewegt fühlen. So schwer das Phänomen der Rührung zu fassen ist, es steht nicht allein da: Die Schwestern und Brüder der Rührung sind etwa die Spannung und das Gefühl des Erhabenen. Im Zustand der Spannung oszilliert man zwischen den Gefühlen Bangen und Hoffen. Das Gefühl des Erhabenen kombiniere Bewunderung und Gefahr und
erkläre beispielsweise, warum Menschen sich in gefährliche Situationen begeben, um einen Vulkanausbruch aus nächster Nähe zu erleben, sagt Wassiliwizky.
Ähnlich widersprüchlich wie die Rührung sind die Spannung und das Gefühl des Erhabenen
Das Gefühl der Rührung erklärt, warum Menschen traurige Musik oder Kinofilme mögen. Menschen scheinen Lust an diesen ambivalenten Gefühlen zu verspüren: weil sie sie an die Existenz von etwas Größerem erinnern. Und vielleicht auch, weil sie in diesen Momenten die Fülle und Ambivalenz spüren, die das Leben ausmacht.
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