Wie sich eine Depression äußern kann

Erfolgreich, aktiv – und trotzdem depressiv. Die Depression kann viele Gesichter annehmen: Wie du bei dir und anderen eine Depression erkennen kannst.

Veröffentlicht am 13.03.2023 in der Süddeutschen Zeitung

„Ich habe gemerkt, dass ich angespannter wurde, bis jeder kleine Funk gereicht hat, dass ich sauer und wütend wurde“, erzähl Micha. Früher ein humorvoller und lebensfroher Mensch, war er nun zunehmend angespannt und dauergereizt. Nachts lag der siebenundzwanzigjährige oft wach, weil ihn dunkle Gedanken plagten. Er zog sich von seinen Freunden zurück, vernachlässigte Haushalt und frühere Interessen. Irgendwann verbrachte er seine Wochenenden nur noch im Bett. Lediglich in der Arbeit funktionierte er weiterhin. Niemand sollte dort sehen, wie es ihm wirklich ging. „Ich baute eine Mauer um mich auf: Nach außen wirkte alles in Ordnung. Innerlich war ich am Verzweifeln“, erinnert sich Micha. Dass er eine Depression haben könnte, kam ihm nicht in den Sinn: „Ich dachte, jeder habe mal so eine Phase. Deshalb nahm ich das alles nicht ernst und habe einfach weitergemacht.“ Bis er etwa ein halbes Jahr später während der Arbeit zusammenbrach: „Mir wurde schwindelig, ich bekam Herzrasen und konnte mein rechtes Bein nicht mehr spüren“, erzählt er. Wie er nach vielen Untersuchungen im Krankenhaus erfuhr, war der Zusammenbruch ein Warnschuss seines Körpers: Er hatte sich zu lange nicht um seine psychische Gesundheit gekümmert.

Viele Menschen schleppen lange Zeit eine Depression mit sich herum, ohne dies zu wissen.

Der Psychiater und Psychotherapeut Marc Nairz- Federspiel erlebt dies immer wieder in seiner Praxis: Menschen, die ihm berichten, seit langer Zeit, manchmal seit Jahrzehnten, keine Freude mehr zu empfinden; die eine Depression mit sich herumschleppen, ohne dies zu wissen. Manche von ihnen wollten ihre psychischen Probleme lange nicht wahrhaben und versuchen, diese mit sich selbst auszumachen – das seien besonders oft Männer. Andere fühlten sich innerlich leer, gingen aber weiterhin erfolgreich ihren beruflichen und sozialen Verpflichtungen nach und würden sich deshalb nicht in dem stereotypen Bild des antriebslosen Depressiven wiedererkennen. Deshalb findet der Experte für Depressionserkrankungen es wichtig, ein Bewusstsein für die Häufigkeit der Erkrankung, ihre verschiedenen Gesichter und Behandlungschancen zu schaffen. „Denn je früher ich in die Behandlung gehe, desto größer sind die Chancen, dass die Depression sich nicht verschlechtert und auch geheilt werden kann“, so Nairz- Federspiel.

Etwa jede siebte Person entwickelt im Laufe ihres Lebens eine behandlungsbedürftige Depression

Die Depression ist nicht nur eine häufige, sondern auch eine besonders ernst zu nehmende Erkrankung: Im Laufe eines Jahres erkranken rund acht Prozent der deutschen Bevölkerung, also über fünf Millionen Bundesbürger. Epidemiologische Studien legen nahe, dass mindestens 15 Prozent der Menschen im Laufe ihres Lebens eine behandlungsbedürftige Depression entwickeln– also etwa jede siebte Person. Leidensdruck gepaart mit Hoffnungslosigkeit führen sehr oft zu Suizidgedanken und in einigen Fällen zum Suizid. Im Jahr 2020 verstarben laut dem statistischen Bundesamt über neun tausend Menschen durch Suizid. Ungefähr 90% der Selbsttötungen erfolgte dabei vor dem Hintergrund einer psychiatrischen Erkrankung, am häufigsten einer unzureichend behandelten Depression, schreibt die Stiftung Deutsche Depressionshilfe.

Wie man bei sich oder anderen eine Depression erkennt:

Doch wie erkennt man bei sich, Freunden, Familienmitgliedern oder Kolleginnen eine Depression? Laut ICD-10, dem internationalen Klassifikationsmanual für Erkrankungen, gehören depressive Stimmung, Freudlosigkeit, Interessensverlust und Verminderung des Antriebs mit erhöhter Ermüdbarkeit zu den Hauptsymptomen der Depression. Die Stimmung Betroffener ist niedergeschlagen und getrübt. Depressive Menschen können weder Freude noch Trauer empfinden. Viele berichten innere Leere und ein Gefühl der emotionalen Abstumpfung, als sähen sie ihr Leben durch eine Glaswand oder wären wie in Watte gepackt. Experten und Expertinnen sprechen hier von dem „Gefühl der Gefühlslosigkeit“. Betroffene sind zudem ständig erschöpft und kraftlos. Jede Aktivität erfolgt wie gegen bleiernen Widerstand, besonders am Morgen. Oft werde schon das Aufstehen und Zähneputzen als anstrengend und herausfordernd erlebt, sagt der Psychiater und Vorstandsvorsitzende der Stiftung Deutsche Depressionshilfe Ulrich Hegerl.

An Depression erkrankte neigen zu ständigen, sich im Kreis drehenden Gedanken.

Charakteristisch für eine Depression sind auch eine umfassende Angst und innere Anspannung. „Depressive Menschen fühlen sich permanent, als stünden sie vor einer Prüfung“, so Hegerl. Außerdem stellen sich meist starke Selbstzweifel, Schuldgefühle sowie ein Gefühl Wertlosigkeit und Überforderung ein. „Man hat das Gefühl, man habe alles falsch gemacht, einem wachse alles über den Kopf“, erklärt er. Gedanken wie „Ich habe schon immer nichts zustande gebracht“, „Ich bin nur eine Belastung für andere“, „Ich bin nichts wert“ seien üblich. Ihre Zukunft malen Betroffene düster und hoffnungslos. Der Kopf steht selten still. An Depression erkrankte neigen zu ständigen, sich wiederholenden und im Kreis drehenden Gedanken. Vielen fällt es auch deshalb schwer, ein Buch zu lesen, sich auf ein Gespräch zu konzentrieren, Entscheidungen zu treffen oder vorauszudenken.

Auch körperliche Beschwerden können Anzeichen einer Depression sein

Neben diesen Symptomen gibt es noch weitere, die oft nicht direkt mit Depression in Verbindung gebracht werden: Das können beispielsweise körperliche Beschwerden, wie Rückenschmerzen, Verdauungsprobleme und Druckgefühle in Hals und Brust sein. Auch ständige Gereiztheit, Ungeduld, Genervtheit, Lärmempfindlichkeit und schnelle Reizüberflutung können auf Depressionen hindeuten, wenn diese Merkmale nicht zu dem früheren Charakter des Betroffenen passen, sagt Nairz- Federspiel. Auch fehlende sexuelle Lust kann zusammen mit anderen Symptomen ein Anzeichen einer Depression sein. „Ich erlebe oft, dass Männer zu mir kommen, weil sie so wenig sexuelle Lust haben. Sie denken, dass es an mangelnder Liebe liegt. Manchmal kommen wir dann dahinter, dass die fehlende Lust zusammen mit anderen Symptomen wie Schlafstörungen der schleichende Beginn einer Depression ist“, so Nairz-Federspiel. Dem Psychiater fällt außerdem auf, dass besonders Schlafstörungen oft nicht als mögliche frühe Anzeichen einer Depression erkannt werden: „Schlafstörungen passieren nicht einfach so. Für sie gibt es immer einen Grund und ganz häufig ist das der Beginn einer Depression.“ Deshalb rät er dazu, einen Hausarzt aufzusuchen, wenn man plötzlich nicht mehr so gut ein- oder durchschlafen kann, weil einem zu viele unlösbare Gedanken durch den Kopf gehen oder man regelmäßig viel zu früh aufwacht, ohne wieder einschlafen zu können und dieser Zustand über ein bis zwei Wochen anhält.

Betroffene der hochfunktionalen Depression wirken nach außen gut aufgelegt und erfolgreich, während sie sich innerlich leer fühlen.

Depressionen können verschiedene Formen annehmen und zeigen dabei ihr ganz eigenes Gesicht: Typischerweise haben Menschen mit Depression Probleme mit dem Ein- oder Durchschlafen sowie weniger Appetit. Die saisonale Depression, die meist in den Herbst- und Wintermonaten auftritt, ist hingegen durch ein entgegengesetztes Muster charakterisiert: „Betroffene zeigen eine Art Murmeltierverhalten. Sie schlafen viel länger und sie haben vermehrt Appetit auf insbesondere kohlenhydrathaltige Speisen, wie Brot, Reis und Schokolade“, erklärt Nairz- Federspiel. Während viele Menschen mit Depression sich aus dem Sozialleben zurückziehen und sich von alltäglichen Aufgaben überfordert fühlen, gehen andere weiterhin anspruchsvollen sozialen und beruflichen Verpflichtungen nach. In diesen Fällen kann eine Form der atypischen Depression vorliegen, die als „hochfunktional“ bezeichnet wird und dem Burn-out Syndrom nahesteht. Nach außen wirken die Betroffenen erfolgreich und glücklich, doch innerlich werden sie von Selbstzweifeln, Schuldgefühlen, Ängsten, Sorgen oder einem Gefühl der Sinnlosigkeit geplagt. „Die hochfunktionale Depression betrifft Menschen, die nach außen eher erfolgreich und gut aufgelegt wirken. Sie sind für jeden Einsatz im Job zu haben, vielleicht sogar im sozialen Leben. Manchmal sind sie die Unterhalter einer Gruppe“, sagt Nairz–Federspiel. Ihre innere Leere versuchen viele mit immer mehr Arbeit, Rauschmitteln und dem hormonellen Belohnungskick nach Erfolg zu füllen; manchmal bis zum Zusammenbruch. Hinter der Leistungsbereitschaft stünden häufig Ängste, wie Verlustängste, die Angst nicht genug Geld zu verdienen oder zu versagen, so Nairz- Federspiel. Weil diese Menschen nach außen so aktiv und erfolgreich wirken, kommen Außenstehen sowie Betroffene selbst häufig nicht auf die Idee, dass hinter der inneren Gefühlsleere eine Depression stecken könnte.

Bei der wahnhaften Depression verspüren Betroffene oft übertriebene Schuldgefühle

Eine weitere Erscheinungsform der Depression ist die wahnhafte oder psychotische Depression, in der sich völlig übertriebene Schuldgefühle einstellen. Hegerl erklärt das an zwei Beispielen: „Eine Studentin hat vor zwei Jahren einen Lippenstift in einem Kaufhaus geklaut und jetzt hat sie plötzlich das Gefühl, schwerste Schuld auf sich geladen zu haben, die nie wieder gut zu machen ist. Dass sie viele Menschen ganz hinterhältig verraten habe. Oder der Familienvater, der überzeugt ist, seine Familie wird im nächsten Winter erfrieren, weil er bei einem Kaufvertrag das Kleingedruckte nicht gelesen hat.“ Die Themen des Wahns seien dabei Schuld, Versündigung, Verarmung und hypochondrische Ängste. „Das sind völlig übertriebene, negative Überzeugungen, die man nicht ausreden kann“, sagt Hegerl. Sehr oft verkleidet die Depression sich auch im Gewand körperlicher Beschwerden. Ärzte und Psychologen sprechen hier von einer lavierten oder somatischen Depression.

„Die Depression schafft sich immer ihre eigenen Gründe, die auch von Lebenskontext und -situation des Einzelnen abhängen“

Warum sieht eine Depression von Mensch zu Mensch derart unterschiedlich aus? Warum plagen jeden andere Gedanken und Sorgen? „Die Depression hat die Eigenschaft, dass sie sich einschleicht und umschaut, was es Negatives gibt. Bei jedem von uns findet sie etwas. Dieses Negative wird dann vergrößert, katastrophaler erlebt und ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt“, erklärt der Vorsitzende der Deutschen Depressionshilfe Hegerl. Bei dem einen können das die Rückenschmerzen sein, die in den Fokus der Aufmerksamkeit geraten und verstärkt negativ wahrgenommen werden, bei dem Nächsten Probleme auf der Arbeit oder Beziehungskonflikte. „Die Depression schafft sich immer ihre eigenen Gründe, die auch von Lebenskontext und -situation des Einzelnen abhängen“, so Hegerl. Diese Gedanken seien meist begleitet von einem umfassenden Gefühl der Hoffnungslosigkeit, was immensen Leidensdruck verursacht.

„Sich vor anderen zu verschließen, macht alles noch schlimmer“

Micha erinnert sich noch gut daran, wie düster seine Gedanken waren: „Ich machte mich innerlich fertig: ‚Du kannst nichts, du bist nichts. Du bist ein Versager‘. Und ich ließ auch niemanden an mich ran, der anderes behauptet hat. Ich war so in diesem schwarzen Loch drinnen, dass ich alles ausgeblendet habe, was positiv ist.“ Vor seinen Freunden verschloss sich Micha, aus Angst diese würden ihn ablehnen, wenn er Schwäche zeigt. Weil Micha mittlerweile weiß, dass diese Gedanken sowie die umfassende Hoffnungslosigkeit Symptome der Depression sind, würde er sich heute früher Hilfe holen. In der schlimmsten Phase seiner Depression vertraute sich Micha schließlich seinem Cousin an, der ihm einst selbst von seiner Depression erzählt hatte. Dieser schickte ihn zu einem Arzt, der ihn an eine Klinik vermittelte. Dort lernte Micha in der Therapie und im Gespräch mit anderen Betroffenen seine Depression zu verstehen, ihre ersten Anzeichen zu erkennen und sich möglichst gut vor weiteren Episoden zu schützen. Heute geht es Micha dank der Unterstützung gut. Anderen Betroffenen rät er deshalb: „Suche dir Hilfe, entweder bei Freunden oder bei einem Hausarzt. Sich vor anderen zu verschließen, macht alles noch schlimmer“. Diesem Rat schließen sich die Experten an: „Wichtig sei, dass man schnell und effektiv behandelt“, so Nairz- Federspiel. Am vielversprechendsten sei dabei eine Behandlung mit Medikamenten und Psychotherapie. Außerdem sei es wichtig, sukzessive schaffbare Tages- und Alltagsstrukturen wiederaufzubauen. In einer depressiven Phase Tage lang daheim im Bett liegen zu bleiben, hält er hingegen nicht für zielführend. Auch Hegel betont, dass zu viel Schlaf bei Depression sogar kontraproduktiv sei. Stattdessen helfe alles, was müde mache, Sport zum Beispiel.

Hier findest du schnell Unterstützung, wenn du oder nahestehende Menschen unter Depression leiden:

Deutschlandweites und kostenfreies Info- Telefon Depression 0800 33 44 533

Telefon Seelsorge zur Suizidprävention 0800 1110111 oder 0800 1110222